1928. Über die Düne zum Strand. Der Gründer der
Klappholttal-Anlage rechts mit Krawatte.
Der Person des
auf Sylt hier und da noch bekannten Arztes Dr. Knud Ahlborn (1888-1977)
ist auf weitere Jahrzehnte hinaus wohl Vergessenheit
nicht vorherzusagen. Er war Allopath und Homöopath in Kampen
und Gründer des Jugendlagers, Kindererholungsheims und der
später zur Volkshochschule Klappholttal ausgebauten
Bildungs- und Begegnungsstätte, heute Akademie am
Meer. Ich bin dankbar, ihn in seiner weitgeistigen, naturverbundenen und
menschzugewandten Persönlichkeit kennengelernt zu haben.
In seinen Hamburger Wandervogel-Jahren
hatte er sich mit der freideutschen Meißner-Rede,
die man in etlichen Abhandlungen nachlesen kann, einen historisch fundierten
Namen gemacht. In kritischer Betrachtung der bestehenden weltanschaulichen
Verhältnisse versuchte Knud Ahlborn nicht nur, handelnd
zu helfen und zu fördern, er forderte auch Eigeninitiative und vom Patienten eigene
Unterstützung bei der Behandlung krankhafter Ursachen und Symptome. Und auch war es ihm
wichtig, dass der Mensch sich und andere nicht zum Nachschaffen
erziehen soll, dafür zum Neu- und Besserschaffen von Werten,
die unserer, also der jeweiligen Zeit entsprechen. Sich zum Wohle
Anderer ähnlich engagiert zu verwenden ist aus vielen guten Gründen nicht jedem
Menschen möglich ich denke dabei an viele vergessene Personen besonders auch auf
Sylt.
Zu den Anfängen der vorhandenen Akademie am Meer-Anlage im Klappholttal
auf Sylt, ursprünglich 1919/1920 von Knud Ahlborn als Freideutsches Lager
gegründet, berichten damalige Ehefrau Annali Ahlborn geb. Weniger (87), ihre Schwester Leni (83) und deren Ehemann
Otto Karl Pielenz (91) als Zeitzeugen von Wehrmachtsbarackenerhalt, Aufbau, Nöten und Funktionsänderungen
in jenen Jahren, interviewt 1978 in Hamburg-Eidelstedt von meiner Ehefrau Barbara geb. Ahlborn (1942-2006) und mir.
Teil 1 und Teil 2 zugedacht all jenen, die aus historischen Gründen am Aufbau der Klappholttal-Anlage und auch an den Wandervogel- und Hohe-Meißner-Jahren ein geschichtliches Interesse haben.
Während
die Inselbahndampf- lokomotive auf der Fahrt von oder nach List
ihre Waggons auch am Haltepunkt Klappholttal zum Stillstand brachte,
um aus- oder einsteigen zu lassen, eilten wir Schüler vielleicht
gerade zur Volksschule oder kamen daraus zurück. An der
Viktoriastraße wohnte ein älterer, geistig behinderter,
hochgewachsener Mann, den wir Heini Walter nannten und der uns
stets leichte Furcht einflößte. Oft fasste er in seinen
Jackentaschen nach, um zu prüfen, ob das, was er darin wähnte,
auch noch vorhanden sei. Mein Vater meinte, er sei einmal ein intelligenter
Mensch gewesen, dem das viele Nachdenken den Geist verwirrt habe.
Einmal sprach er ihn in meinem Beisein an und ich vernahm eine
überraschend konzentrierte Antwort. Auf dem Nachhauseweg
erklärte mir der Vater, dass dem Mann von der Viktoriastraße
wenigstens von Zeit zu Zeit ein geeigneter Gesprächspartner
fehle, um sich gedanklich auszutauschen, und dass er einem Menschen niemals
etwas zuleide täte. Warum erzähle ich das überhaupt?
Weil es ihn gegeben hat. Es hat auch einen kleinwüchsigen Mann
im höheren Alter gegeben, den wir
Hemme Schulz nannten und der Plattdeutsch sprach. Sagte man zu ihm: Hemme,
de schwatte Woog kümmt, der scharze Wagen, das Pferdegespann, das den
Leichenwagen zog, dann fragte er immer wieder aufs Neue und jedesmal erschrocken: Wo!
Wo! Respekt gebührte auch einem Witwer Petersen, der seine einachsige großflächig-hölzerne
Karre zwischen ihren zwei Deichseln die Straßen entlang vor sich her schob, leer oder beladen
und stets von seinem halbwüchsigen, geistig behinderten Sohn oft kraftlos unterstützt.
Mit Gepäcktransport oder dem Transport anderer Sachen verdiente Petersen sich von Tag zu Tag
seinen kargen Lebensunterhalt.
Im Mai 1937 da
war ich noch unterwegs. Die Hindenburg- Katastrophe
verstand ich erst viel später. Ich habe den 3. Navigationsoffizier Boëtius kennengelernt, der
während des Absinkens der rasch verbrennenden Hindenburg in letzter Sekunde um einige Meter
zu Boden sprang, davonspurtete und auf diese Weise sein Leben rettete. 1942, einen Monat vor meinem
fünften Geburtstag, war ich die Treppe herunter- und in
die Wohnstube gekommen, abends, ich konnte nicht einschlafen.
Großvater und Mutter hielten ihre Ohren nah am Lautsprecher
unseres Lumophon-Radios und lauschten einer zwar leise eingestellten,
aber eindringlichen männlichen Stimme. Ich fragte: Wer ist
das? Sie hatten mich nicht gehört und erschraken. Es ist
ein Hörspiel, sagte Mutter und kam rasch auf mich zu, und
nun gehst du schnell wieder ins Bett. Aber wer das ist, fragte
ich noch einmal. Mathias Wieman, sagte Mutter. Ich schlief im
Zimmer, das ich mit Großvater teilte, darüber ein.
Es war Thomas Mann im Feindsender Hier ist der Londoner
Rundfunk. Feindsender hören war sehr gefährlich
und kleine Jungs können draußen mal etwas
verplaudern. Mathias Wieman war ungefährlich.
Großvater Boy
(1874-1956) stammte aus Morsum. Seine Frau Alma (1877-1935), geb.
Erichsen aus Tinnum, starb im ehelichen Schlafzimmer an einem Schlaganfall.
Ihre Kinder waren Anne Marie (1900-1972), später Christiansen, und Ewald Sehstedt (1905-1990).
Alma konnte nach der Apoplexie weder sprechen noch sich bewegen, doch wenn sie wach war
und ihre junge Schwiegertochter kam herein, um zu lüften, dann folgten Almas Augen manchmal
ihrem Gang zum Fenster und zurück.
Das stattliche Friesenhaus in Alt-Westerland, Gartenstraße 5, ging
an die Städtische Sparkasse Westerland. Großvater Boy hatte für seinen Freund
gebürgt und einen Wechsel unterschrieben, der
nicht termingemäß eingelöst werden konnte.
Von seiner hochbetagten, kinderlosen, alleinstehenden Tante Maria Andersen, der der Pfauenhof in Archsum gehörte,
erbte auch der Großvater als Neffe einen Geldbetrag, der seinem Sohn, unserem Vater, zum Hausbau an der
Gronaustraße zugute kam. Als Gegenleistung wohnte der Großvater vertragsgemäß
bei uns und war auf Lebenszeit versorgt. Uns Enkelkindern, zunächst
drei, bald fünf, war er eine wichtige Bezugsperson. In seiner
kaiserlichen Soldatenzeit hatte er vom Erzfeind
Frankreich gehört. Das ging gegen sein Denken und Empfinden. Er empfand
Verallgemeinerungen dieser Art als dumm und arrogant. Im Juli 1956
spürte er seinen Tod voraus, wollte aber jedes seiner geografisch verstreuten Enkelkinder
noch einmal sehen. Ich befand mich in Richtung Heimat auf dem Nordatlantik. Drei Tage später
kam ich abends in seinem bescheidenen Zimmer als Letzter zu ihm. Mit leuchtenden Augen reichte er mir
seine schwache Hand, und wir sprachen miteinander. Am nächsten Morgen wollten wir uns wiedersehen, doch
in der Nacht war er entspannt gestorben. Rechts unser Vater mit
Sohn Uwe (1934-2014) auf dem Arm, Mutter Gertrud (1912-1992) geb. Nyholm mit Sohn Gerd (*1936), dabei
Tochter Ose (1933-2004). Später (links) hinzugekommen, vorne, Söhne Erich (*1937) und Manfred (1941-2015),
verlässlich von seiner Schwester gegen Absturz gesichert.
Im Juli 1956
war ich nach weltweiten Seetörns über viele Monate hinweg mit dem Tanker Elisabeth Entz
der Rendsburger Reederei Zerssen & Co. nach Hamburg zurückgekehrt. Der Großvater hatte gewusst,
dass diese Heimreise bevorstand, um im festen Willen jene drei Tage durchzuhalten, die
ich die Eltern per Telegramm hatte wissen lassen (nachdem ich auf gleichem Wege über die Situation des
Großvaters unterrichtet worden war). Der Hauptbahnhof Westerland (links oben) war und ist eine Endstation der
Deutschen Bundesbahn. Vom Inselbahnhof aus (links unten) konnte man sich in einem Schienenbus
mit Tempo zwanzig südwärts bis
Hörnum, nordwärts bis List transportieren lassen. Wie zur Zeit der dampfbetriebenen
Loks mit ihren Peron-Waggons, den Rasende Emma-Zügen, war nach wie vor das
Blumenpflücken während der Fahrt verboten. Nach dem endgültigen Aus des
Inselbahnbetriebs und nach dem Entfernen des Gleiskörpers blieben die beiden Trassen erhalten. Das hatte
zur Folge, dass später diese Trassen weitgehend zu Fußgänger-/Radfahrstrecken hergerichtet
und bald komfortabel ausgebaut wurden. Die 1950er-Jahre stellten aber das letzte durchgängige
Jahrzehnt stressfreier Badegast-Urlaubswochen dar (es gab das Wort Stress noch nicht). Tagesbesucher aller
Couleur gab es nicht. In Tanzlokalen hörte man Bill Haley, Elvis Presley, Johnny Ray, Pat Boone usw.,
das Kleine Versteck an der Friedrichstraße war in, wo vorne (am Eingang) Wolfgang Heinrich kalte
Koteletts und Bier auch für den Durchgangsverkehr anbot, hinten (im Tanzsaal) Bubi Schnittgart auf der Hammond-Orgel
spielte oder tolle Platten auflegte, in der Mitte (im Verbindungsraum) Erni und/oder Frau Somol auf Wunsch die besseren
Sachen einschenkten.