Aus dem Privat-Archiv

Siegrid Stojan, geb. Andersen, deren Vater Carl ein Vetter meines Vaters war (siehe Hintergrunddarstellung Seite 19), unterrichtete kurz nach Ende Weltkrieg II auch in meiner Klasse als junge Volksschullehrerin. Mitklässler „Hänner“ Bartosch, drei Jahre älter als wir anderen, mit seiner Familie aus Danzig vertrieben und auf Sylt gelandet, war in seine nur um acht Jahre ältere blonde schöne Lehrerin gründlich verknallt. Dreißig Jahre später besuchte er das Ehepaar Stojan und Siegrid erinnerte sich, dass es ihn damals in der Klasse tatsächlich gegeben hat. Englisch-Lehrerin, geschätzt dreißig Jahre älter als Siegrid, war „Miss Bandemer“ („He, she, it – das S muss mit ! Oder: S am Anfang allemal scharf wie in dem Wort Ssskandal !“). Klassen- und Deutschlehrer war Schubert („Dat weer man jüst 'ne Veer“), der später die Mutter unserer Mitschülerin Susanne Hake und ihres Bruders Bernd heiratete. Einmal pro Woche las er aus einem literarischen Werk höheren Niveaus vor, aber forderte uns einmal auf, ein Buch aus dem Hausbücherbord mitzubringen. So las er aus meinem Winnetou Band 1 von Karl May vor, was mich zwar sehr begeisterte, aber plötzlich sehr betrübte, denn er brach nach einigen Seiten gelangweilt ab, reichte mir das Werk zu und ließ die Klasse ein langweiliges Diktat schreiben (ich fand das Diktat langweilig).

Aus dem Privat-Archiv

Siegrids Vater Carl war Schuhmachermeister mit Werkstatt an der Strandstraße, die Familie (Onkel Carl, Tante Dora, Siegrid, Petrie, Karl-Rydgard, Hauke) wohnte im Haus Eden an der Klaus Groth-Straße, eine Verbindung von der Norder- zur Bomhoffstraße. Auch Ernst-Wilhelm Stojan war an der Westerländer Volksschule Lehrer, unterrichtete aber andere Klassen, nicht unsere. Später war er Schulleiter, Stadtverordneter, Bürgervorsteher, von 1964 bis 1982 Abgeordneter der SPD im Landtag in Kiel. Siegrids 80ste Geburtstagsfeier im Hotel „Stadt Hamburg“ durften meine Frau Barbara und ich am 21. Februar 2006 miterleben. Kurz vor der Diamantenen Hochzeit der beiden Stojans starb Siegrid am 11.11.2009. Dass Ernst-Wilhelm, wie er mir sagte, als ich ihn besuchte, mit kreativer Arbeit nicht nur den Verlustschmerz milderte, sondern sich damit auch über das Alleinsein hinweg half, konnte ich durch den plötzlichen Tod meiner Frau Barbara, zehn Tage nach Siegrids 80sten, nur zu gut verstehen. Ernst-Wilhelms Alleinsein dauerte bis zu seinem Tod am 19.7.2018. Er hat gegen viele politischen Widerstände die Nazi-Verbrechen des langjährigen Westerländer Bürgermeisters Heinz Reinefarth konsequent in die Öffentlichkeit gebracht, war Gründungs- und Ehrenmitglied des Fremdenverkehrsvereins Westerland/Sylt, Ehrenvorsitzender des AWO-Ortsvereins Westerland, war Träger der Freiherr-vom-Stein-Medaille und erhielt 1983 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Aus dem Privat-ArchivAn Anita Friedrichsen (1908-2004), geb. Ehmke, unsere Nachbarin zum Westen, erinnere ich mich gerne. Im Herbst 1944 fiel ihr Mann Hans an der Front. Mutter, mit Tochter Ruth, 16, musste fortan nach innen und außen alles Notwendige alleine bewältigen. Es gab keinen Zweifel: Sie bewältigte das von Anfang an, auch den Umgang mit Sommergästen vor und nach dem Kriege, mit Nachbarn, mit jeder und jedem. Denn sie war eine gefühls-, willens- und handlungsstarke Frau, konnte kräftig über ihre und anderer Leute Situationskomik lachen, war sehr verlässlich, und ihre manchmal derb ausgesprochene Sorge um das Wohlergehen ihrer Gäste wurde von ihnen keineswegs missverstanden. Sie mieteten sich immer wieder gerne auf schöne Sommerwochen bei ihr ein. Der Kontakt mit unseren Eltern (und uns, da sie uns von der Wiege bis ins reife Erwachsenenalter miterlebte) war von gegenseitigem Vertrauen geprägt, weil Tratsch und Klatsch im Grundsatz ausblieben, dafür Ereignisse, die man anders erwartet hatte, Anlass gaben, sie humorvoll belustigt zu schildern. Tätig sein war für Anita Friedrichsen wichtig, Ruhelosigkeit ihr Lebenselixier neben hin und wieder Verreisen, aber als erstes die Familie, von Tochter Ruth und Schwiegersohn Theo gegründet.

Von ihrem Vater, „Opa Ehmke“, der Bremer Platt sprach und im Norden Westerlands ein syltweit bekannles Baugeschäft gegründet hatte, gibt es folgende wahre Geschichte: Eine der ersten Verkehrsampeln war jene, die den Verkehr vom Osten her in die Strandstraße neu regelte. Vater Ehmke störte das überhaupt nicht. Er fuhr auf seinem Fahrrad an der Ampel vorbei wie er wollte. Ein Schutzmann stoppte ihn, weil er sie bei „Rot“ nicht hätte passieren dürfen. Ins Hochdeutsche übersetzt entgegnete der Verkehrssünder entrüstet: Wer war zuerst da, die Ampel oder ich!!

Aus 
    dem Privat-ArchivDas Städtische Krankenhaus (Chefarzt Dr. Hoins, Oberarzt Dr. Puller, streng widerspruchresistente Oberschwester Waltraut) war das westlichste größere Haus an der Rote-Kreuz-Straße, kurz vor dem Strandübergang zur Seenot-Rettungsstation, deren zwei besegelbare Rettungsboote gegenüber dem Krankenhaus im Bootsschuppen bereit lagen – oder seilbefestigt am Strand, um im Notfall von einer Winde, oben auf der Düne, gegen die Brandung transportiert zu werden. War das Drahtseil straff gezogen, konnte es einem sportlich Bewegten gegen den Sonnenstand die Kehle durchschneiden. Vor dem Krankenhaus ist das Haus des Anita Friedrichsen-Bruders Willi Ehmke zu erkennen und mir zuwinkende Tochter Carmen. Das nicht sichtbare Nachbarhaus an der Ecke zur „Chausee“ (die Norderstraße) gehörte dem Elektrizitätswerke-Direktor Schollenbruch. Bild rechts: Teil des Hotels „Zum Deutschen Kaiser“, Richtung Rathausgebäude norderstraßenseitig. Unten links: Friedrichstraße vom Radio- und Fernsehgeschäftsdach Günter Schröter aus gesehen. Rechts: Grünfläche vor dem Warmbadehaus, Richtung Strandstraße, mit Umzug „50 Jahre Stadt, 100 Jahre Seebad“.

In das Haus der Familie Schollenbruch war gleich nach Kriegsende eine unvollständige Flüchtlingsfamilie eingewiesen worden, Mutter mit Sohn Gunter und jüngerer Tochter, die treppaufwärts wohnten. Ich durfte ein- oder zweimal in die Notwohnung zu den beiden Kindern kommen, sie durften auch manchmal mit uns draußen spielen, die Mutter ließ sich selten sehen. Eines Tages hatte sie sich und den beiden Kindern Gift verabreicht, woher immer sie diese Substanz hatte. Wie es hieß, wollte sie ohne ihren Ehemann nicht weiter leben. Alle drei starben und wurden auf dem großen Westerländer Friedhof beerdigt. Wie es weiter hieß, sei der Ehemann bald darauf angekommen, es mag aber vielleicht ein Gerücht gewesen sein.

Aus dem Privat-ArchivDie Schulklassen waren bis zur Umsiedlung vieler Familien nach Süddeutschland in den Jahren 1949 und 1950 vielfach überfüllt. Flüchtlingskinder, allgemein, hatten sich schnell mit uns eingesessenen Kindern und mit der Schülerschar der Volks- und Mittelschule vereinigt. 1948 gab es an der Steinmannstraße in Nachbarschaft zum Städtischen Krankenhaus eine Schulbaracke ohne Abiturmöglichkeit als Außenstelle der Niebüller Friedrich-Paulsen-Oberschule, erst 1952 selbstständiges Progymnasium. Ein ausgedehntes Barackenlager war 1945 in Nähe zu uns für Ostflüchtlinge entstanden, links und rechts der Nordmarkstraße. Wie auch in anderen Ortschaften üblich, gab es nun starke lokale Jungsgruppen, die gegenüber sämtlichen anderen Cliquen ganz indianisch auf Kriegsfuß standen. Der Stärkste war jeweils der Häuptling, seine Krieger gehorchten aufs Wort. Mein nächstälterer Bruder Gerd war Zorro-Häuptling und durchstreifte in der Dämmerung nicht selten Feindgebiet. Einmal wurde er gefangen genommen und im von britischen Soldaten zerstörten, doch immer noch bekriechbaren Nazi-Exhauptgefechtsstand an Moniereisen gehängt, die im Dunkel des Inneren in die muffige Luft stachen. Das Aus- und Eingangsloch wurde von außen fieserweise mit Sand zugeschoben. Erst spät am Abend kehrte er lädiert heim und lebt gottseidank auch im Jahr 2020 noch.

Das für die Westerländer Nord-, Ost-, Süd- und weitere Cliquen Interessanteste an diesem Bunkersystem war, dass man durch einen Tunnel, der durch die Düne aufwärts führte, zum freien Oberplatz steigen konnte, auf dem sich in den Kriegsjahren eine starke, mit Handkurbel drehbare 8,8cm-Fliegerabwehrkanone mit langem Abschussrohr befand. Nebenan war ein imposantes Horchgerät aufgestellt, das die Soldaten innerhalb eines bestimmten Winkelbereiches nach Westen zu schwenken konnten, um den leisesten Anflug britischer (oder amerikanischer) Flieger wahrzunehmen. Begann „unsere“ 8,8cm-Flak nahe der Seenotrettungsstation in der Nacht zu schießen, weil britische Bomberpulks weit oben über uns hinwegbrummten, so erzitterten und klirrten die Hausfenster und die Türen klapperten. Auch im Nachbarhauskeller bei Gutschmidts, in den wir schon im Warngeheul der Sirenen gehastet waren, hörte man deutlich die Vorüberzugsdauer der „Tommies“, die sich nicht uns, sondern deutsche Städte weit östlich von uns vorgenommen hatten.