Ein Sylt-Tag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wo stehen wir heute? Viele bekannte und unbekannte Menschen haben Sylt gelobt und gepriesen, waren sie nun Ärzte, Geologen, Biologen, Archäologen, Politiker, Aristokraten, Industrielle, Künstler, Literaten oder einfach – Badegäste, Erholungssuchende, Patienten, Freizeitaktivisten, Träumer. Gesichter wie jene von Königin Elisabeth von Rumänien (Dichterin Carmen Sylva), Paul v. Hindenburg, Hermann Göring, Marlene Dietrich, Hans Albers, nach dem letzten Kriege Gunther Sachs, Axel Springer, Werner Höfer, Walter Jens, Gert Fröbe, Willy Brandt usw. sah man und sieht man an Sylter Straßen und Stränden oder in manchen Esslokalen und Kneipen, beispielsweise bei Valeska Gert in ihrem Kampener Ziegenstall.
Beide Weltkriege schafften viele fremde Soldaten auf die Insel. Einheimische Männer, sofern nicht im Fronteinsatz, wurden im Ersten Weltkrieg zur Inselwache verpflichtet (mein Großvater gehörte dazu). Im Zweiten Weltkrieg wurde die westliche Dünenkette mit Flakgeschützen und Horchgeräten zur Abwehr feindlicher Angriffe belegt. In List, Westerland, Rantum und Hörnum waren großräumige Kasernenanlagen entstanden. Hoch über die Einwohnerschaft hinweg, immer zur Nachtzeit, zogen britische Bombergeschwader ostwärts, unerreichbar für 8,8cm-Abwehrgeschosse, die schon unterhalb der Flugzeuge krepierten. Sirenengeheul scheuchte die Bevölkerung in die Keller. Belgische, holländische, französische Kriegsgefangene, die mit uns Kindern sonntags am Strand spielen durften, mussten eine Panzermauer errichten (die immer noch besteht), um gegebenfalls britische Landungsfahrzeuge aufzuhalten. Polnische und russische Gefangene blieben zwischen List und Hörnum in Barackenlagern unter Verschluss. Bei einem unserer direkten Nachbarn war Vera, eine russische Gefangene, als Haushaltshilfe verpflichtet, eine uns Kindern gegenüber liebevolle und auch allgemein in Sympathie schnell sehr geschätzte junge Frau (warum war sie eine „Feindin“: Im menschenfeindlich-ideologischen Denken, sonst nicht).

Inselwachekameraden um 1915. Mein Großvater ganz links, im kleinen Bild herausvergrößert.

Nach der Nazi-Kapitulation am 8. Mai 1945 wurden die westlichen Gefangenen unter fröhlich-lautem Befreiungsgesang auf britischen Militärfahrzeugen über den Hindenburgdamm auf den Weg in ihre Heimat gebracht. Ostgefangene wurden unspektakulär später abtransportiert. Die Unterkünfte der Kriegsgefangenen und neu aufgestellte Barackenlager, aber auch auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht freigestellte Hotelzimmer wurden mit Ostflüchtlingsfamilien überwiegend aus Schlesien, Ostpreußen, Westpreußen und Pommern belegt. Die Einwohnerzahl der Insel hatte sich verdoppelt, auch erschienen die ersten Badegäste wieder nach sechs Jahren Inselentzug. So hatten in den Kriegsjahren der Strand und die Heide uns Kindern gehört. Nun aber, wie vor dem Kriege, lagen wieder wohlbetucht-reichsmarkzahlende Badegäste in ihren Strandburgen oder badeten in der See. Nacktbader zeigten sich in zugelassenen Strandbereichen, deren Grenzen aber von Jahr zu Jahr aufweichten. Schnell vertrugen sich Urlauber im oder ohne Badezeug friedlich, was immer noch recht vorbehaltlos der Fall ist.
Langsam kurbelte sich die nachkriegsdeutsche Wirtschaft grundsätzlich selber an. Ende der 1950er Jahre war der Start in den bundesdeutschen Aufschwung des allgemeinen Wohlstands nicht mehr aufzuhalten. In den 1970er Jahren war die Existenz vieler Hotels und großer Häuser aus wilhelminischer Zeit durch Abriss aus kommerziellem Interesse beendet. Massenappartements in seelenlosen Betonklötzen wurden an ihre Stellen gesetzt – nicht immer nach wirtschaftlich sauberer Methode, von einer moralischen ganz zu schweigen. Profit! war die Devise. Orientierung fand statt an Benidorm und anderen Stätten in der Welt, der „Rubel rollte“ ja wieder.

Westerland, Strandstraße, Haus Atlantik, als der Bauboom noch nicht so drastisch eingetreten war. Rechts: Westerland, Friedrichstraße 1950er Jahre.

Aber auch diese alte Bausubstanz musste „weg“. Nicht nur mussten ehrwürdige, auch historisch wertvolle Bauten weg, sondern weg mussten zusätzlich freie Heide- und Wiesenflächen, aber nicht, um sie zugunsten der einheimischen Bevölkerung zu bebauen, sondern darum, dass syltfremde Baulöwen ihre Profitsucht offiziell ausleben konnten. Das hatte auch, wenn auch zu spät, zur Folge, dass Gerichtsverfahren bis hin zur drastischen Investor-Verurteilung praktisch durchgesetzt wurden. Zu spät, weil diese Leute zwar unlauter gehandelt hatten, deren Bauten und Bauanlagen aber nun Tatsache waren – und sind und noch lange bleiben werden.
Die ungebremste Kfz.-Flut durch den Tourismus mit der Folge eklatant zunehmenden Straßenverkehrs durch bauliche Erneuerung, Erweiterung und Modernisierung, verbunden mit entsprechender handwerklicher Aktivität, führte dazu, dass zunächst die Friedrichstraße zur Fußgängerzone umgestaltet wurde. Dennoch überfordert der Autoverkehr, besonders im Sommer, andere befahrbare Straßen der Insel. Abgasgestank verpestet seit Jahrzehnten die hereinkommende Meeresluft. Man darf Fakten nicht schönreden oder gar ignorieren, gerade dann nicht, wenn man seine Heimat liebt, und auch nicht, wenn man nur vorgibt, dass man sie liebt. Veränderung als Verbesserung ist notwendig, aber wer, wenn nicht die Kommunalpolitik als kommunalhöchste Instanz, hat von vornherein für das rechte Maß zu sorgen...
Baulöwen und Investorhaie durften ganze Siedlungsdörfer aufstellen, auch im Dünengelände. Sylt war so begehrt, dass kapitalkräftige Leute aus allen bundesdeutschen Ländern und darüber hinaus ihre teuren Anzahlungen leisteten, bevor es überhaupt einen abgesicherten Bebauungsplan bis hinein in die Einzelheiten gab. Na, das freute ja die syltfremden Investoren. Da konnten sie ja loslegen. Von Einheimischen halb bewundert, halb von ihnen verhasst, regneten in die offen gehaltenen Schürzen der Baulöwen ungezählte Hunderttausender wie Sterntaler. Das Maklergeschäft begann, sich in ungezählte Maklereien zu verteilen, aber nicht nur zugunsten des Großkapitals, auch, um ehrbaren Menschen eine Ferien- oder Rendite-Unterkunft in seelenlosen Appartmentgebäuden zu vermitteln, die das Stadtbild nicht zu verschönern verhelfen (im Gegenteil). Infolge unseriösen Handelns ist indessen der eine oder andere Bauhai auf Nimmerwiedersehen geflohen, und auch landete mal einer irgendwo im Dunkel seiner Gefängniszelle. Was hinterlassen blieb sind die vorhandenen, einst genehmigten Schandbauten – eine Sammlung von Scheußlichkeiten. Westerlands, und nicht nur Westerlands Gesicht wandelte sich mehrfach nachteilig. Ein gesichtsloser Ort? Beispielsweise wie da und dort an Spaniens Küste? Wären nicht Gegenstimmen energisch laut und lauter geworden, um endlich Einhalt zu gebieten, wohin hätte es geführt? So konnte die Erlaubnis zum Bau eines Riesenkomplexes, hochgelobt Atlantis genannt und gefährlich nah zur Nordsee auf sandigem Boden geplant, vor zwanzig Jahren gerade noch verhindert werden. Da gelang mal was.
Sylt war ein eigener Kosmos, aber Sylt ist es nicht mehr durchgängig. Das schadet grundsätzlich nicht, denn Isolation benachteiligt, das weiß jede und jeder. Es schadet jedoch, wenn der Blick isoliert auf materiellen Vorteilen ruht, wenn Zukunft Vergangenheit ausschließt. Von vorn frisst die See, von hinten frisst sich Zersiedelung in die geographisch begrenzte Sylter Landschaft. Das raubt den Insulanern ihr eigentliches Kapital gegenüber anspruchsvollen Gästen, denen bloßes high life, bloßes Faulenzen zu wenig ist. Man spricht vom „Syltgeist“ der Inselbewohner. Ist das der Euro- oder ist das der Heimatliebeblick? Beides. Bloß: in welchem Verhältnis zueinander?
»Üüs Söl’ring Lön, dü best üüs helig«, singen die Einheimischen am Biikefeuer: Unser Sylt(ring)er Land, du bist uns heilig... Hoffen wir, dass wir noch immer genau wissen, was wir da singen.
Bodo Schütt (1906-1982), ein Arzt auf Sylt und ein von Kennern vielgepriesener Dichter, den ich recht gut kannte, schenkt uns in seiner Lyrik ein besonderes Bild von St. Severin – die Keitumer Kirche, ein Gotteshaus, das viele berühmte Leute gesehen hat, denen eine starke Syltliebe innewohnte. Bodo Schütt schrieb von diesem Bauwerk:
Weitab die Kirche vom Dorf / Straße voll Sturm und Regen – / mühsam der Weg zu Gott. / Aber der Weg nach innen – / welch eine wuchernde Wildnis / und welch ein Gott. / Lang auf dem Rücken zuletzt / windige Straßen zu fahren – / mühlos, nicht Angst nicht Gott. Auch seine Beschreibungen der Landschaft enthalten eine besondere, die bloße Darstellung weit übersteigende Perspektive einer Anschauung:
Wohin wir kommen / sind schon die Toten gewesen / und haben ihre Geräte / hinterlassen die Scherben / von Urnen und aus gewaltigen / Steinen die Höhlen / und haben das Land / in Besitz genommen / abgesteckt mit ihren Leibern. / Keiner weiß / welche Grenzen sie zogen / und welchen Anspruch sie stellen / an unser Licht / ...
Und auch und selbstverständlich hat er die Naturgewalten vor und um Sylt beschrieben:
Die Wasser sind gekommen / aber sie nahmen uns nicht. / Salzsee stand in den Straßen / Salzflut quoll in das Haus / doch sprengte es nicht. / Hoch auf dem Kliff / hockten wir unterm Geheul / der Wolkenhunde. / Die alten gerechten / Grenzen der Insel wankten. / Der Bauern der Väter Lose / Heide Geröll versanken / in kochender See. / ... / Betonbastionen / sind umgebrochen zerwühlt / von Wogenpranken / Quadersteine verspült / Fassaden zerfetzt. / Die Dünen / sind weggerissen / Häuser auf Sand zersplissen. / In Heidetälern / gurgeln die Wasser / und schmatzen: / das Meer kommt nach. / ...
Ernst Penzoldt schreibt in seiner „Ansichtskarte aus Kampen“:
Was doch die Leute für ein Getue mit Kampen haben! Wenn sie das Wort Kampen sagen, bekommen ihre Augen einen so schwärmerischen, sehnsüchtig-verklärten Ausdruck, dass man überzeugt ist: Kampen muss ein Paradies sein. ... Ich glaube, der sagenhafte Ruf dieses Ortes beruht auf reiner Einbildung. Kampen besteht zum größten Teil aus nichts als Luft, Wasser und Sand. Bäume, die sonst einen wesentlichen Bestandteil vernünftiger Landschaften ausmachen, gibt es hier fast gar nicht, und die wenigen sind „vom Winde verweht“, haben nur eine halbe Krone und sehen sehr eilig, sozusagen fortstrebend aus. Wenn ich behauptete, Kampen bestehe größtenteils aus Luft, so hätte ich genauer sagen müssen: aus Wind. Es ist mir ein Rätsel, dass von dem Sand, sehr feinem Sand übrigens, trotz des jahrhundertelang fast unaufhörlich wehenden Windes noch so viel übrig geblieben ist, zahlenmäßig ungefähr noch genausoviel wie vor zehn Jahren, als ich das erstemal hier war. Natürlich: das Meer ist immer etwas Schönes, Erhabenes, aber es gibt schließlich genug davon auf der ganzen Welt, wobei es mich, wenn ich den Globus so betrachte, stets gewundert hat, dass es nicht von der Erde abtropft ins All. ... Es gibt auch Häuser in Kampen, strohgedeckte, zottige, aus bordeauxroten Backsteinen gebaut. In der Dämmerung könnte man das Dorf für eine weidende Mammutherde halten. Es ist ein wahres Glück, dass ich mich ein wenig auf Tiere verstehe und das hiesige Geflügel bei Namen nennen kann: die schwarz-weiß-roten Austernfischer, die so schlau dreinblicken und wie kleine nationalistische Störche aussehen, die bunten Fuchsgänse, Goldregenpfeifer, Seeschwalben, Silbermöwen und wie diese unterhaltenden, anmutig fliegenden Tiere alle heißen. Man würde sich übrigens kein bisschen wundern, wenn einem bei einer Wanderung durch die Dünen plötzlich ein Rudel Gazellen, Löwen oder Giraffen begegnen würde. Zur Zeit blühen die Rosenhecken, weiß und rot, und die schnittlauchähnlichen Wattnelken in zierlich-steifer Grazie und, so reizend wie gefährlich aussehend: das Knabenkraut. Man sieht, ich versuche alles anzuführen, was den angeblichen Zauber Kampens retten könnte, dem auch ich mich, scheint’s, nicht völlig entziehen kann, obwohl ich nicht zu sagen vermöchte, worin diese Verzauberung eigentlich besteht. Weil der Himmel hier größer, viel größer ist als irgendwo sonst auf der Welt? Weil das Meer und das Watt alle Farben meines Aquarellfarbkastens annehmen können, vom unheimlichen, fast schwarzen Indigo bis zum durchsichtigsten, wangenzartesten Rosa, in alle Metalle, Seidenstoffe und Edelsteine sich verwandeln können? Oder weil man hier wie nirgends so ganz genau weiß, welche paar Menschen man hier haben möchte, als wäre dieser seltsame Ort der eigentliche natürliche Maßstab für menschliche Sympathie, die, ach, so wählerisch und oft so schrecklich ungerecht ist?
Der Sylter Schriftsteller Hinrich Matthiesen schreibt aus den achtziger Jahren in seinem Buch „Mein Sylt“:
Eine Flutkatastrophe ganz besonderer Art galt es vor einigen Jahren abzuwenden. Da tauchte, durch Gott weiß welche widrigen Winde hergeweht, ein Mann aus dem Ruhrgebiet bei uns auf, entstieg ... seinem Jet mit dem Ziel, Sylt quasi im Vorübergehen in die Tasche zu stecken. ... Ja, er lehrte die Insulaner das Fürchten, denn sein Plan war, auf Sylt den Massentourismus einzuführen. Zehntausend hiesige Gästebetten wollte der bullige Allround-Unternehmer mit Massenkontingenten aus dem Ruhrgebiet belegen, und zu diesem Zweck kaufte er Häuser auf, hundertelf an der Zahl. Daneben erwarb er ein Taxi-Unternehmen, eine Autovermietung und eine Kurklinik. Er zahlte überhöhte Preise und baute die Häuser so um, dass eine Vielzahl an Klein- und Kleinstwohnungen entstand. In manchen Fällen wurde das auf diese Weise mit Betten reich bestückte Objekt bald wieder verkauft, mit großem Gewinn, denn der Jongleur versprach märchenhafte Renditen. ... Es kam auch vor, dass der Rattenfänger mit Vermietgarantien von tausend Mark pro Quadratmeter und Jahr lockte, was einheimische Fachleute für utopisch hielten, weil es eine Belegung von mehr als zweihundertfünfzig Tagen voraussetzte. Zwar bemüht man sich hier mit wachsendem Erfolg, über die reine Sommersaison von rund hundert Tagen hinaus auch im Frühjahr und im Herbst und zu Weihnachten Gäste beherbergen zu können, doch gelten hundertzwanzig bis hundertfünfzig Vermiet-Tage pro Jahr als die Ausnahme. Weil das Ziel des rigorosen Aufkäufers bald bekannt war, brachten manche Hausbesitzer ihr Objekt in aller Heimlichkeit an den Mann; aber sobald die fremde Firmenflagge im Garten wehte, wurde der Verkauf dann doch publik. Das glimpfliche Ende der Geschichte: Sylt wurde kein zweites Mallorca. Das neue Imperium brach zusammen, noch ehe es zu voller Blüte gelangt war. Was allerdings zurückblieb, war in einigen Inselorten ein aus den Fugen geratener Immobilienmarkt, der dann auch mehrere Jahre brauchte, um sich wieder zu erholen...

Übrigens: Der Sylter Immobilienmarkt ist wieder voll erblüht. Das wird weitere bunte Seifenschaumblasen nach sich ziehen, von denen später etliche platzen...
Bestimmte Textteile und Datenauszüge auf diesen fünf Seiten sind dem Buch SYLT des kundigen Kampener Heimatforschers Henry Köhn entnommen.
Erich R. Andersen, 2. Juni 1994.