Ein Sylt-Tag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eigens für diesen besonderen Tag habe ich mich hingesetzt, um Euch jungen Menschen etwas von »meiner Insel« aufzuschreiben, auch wenn das Beschriebene zum Teil schon sehr viele Jahre zurück liegt. Doch um welchen besonderen Tag handelt es sich hier eigentlich? Nun, zunächst seid Ihr am 18. April 1994, vor genau 45 Tagen, man kann also ausrechnen, welches Datum wir heute schreiben – also: Zunächst seid Ihr, neun schleswig-holsteinische Schüler im Alter zwischen acht und sechzehn Jahren, im Kieler Schloss als Landessieger aus dem Wettbewerb »Schölers leest Platt« hervorgegangen. Ich war einer der Juroren. Außer Euch und einem Teil Eurer Lehrer und mir sind noch weitere drei maßgebliche Persönlichkeiten mit auf dieser Reise nach Sylt: Frau Spiwock als Vertreterin des schlewig-holsteinischen Sparkassen- und Giroverbands, ohne dessen Aktivität und Geld weder das eine, der Wettbewerb, noch das andere, unsere Erlebnisfahrt, hätte stattfinden können; ferner Herr Dr. Willy Diercks als der Geschäftsführer des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes und Vorsitzender des in diesem großen Dachverband angesiedelten Niederdeutschen Ausschusses, von dessen Mitgliedern nicht nur ich eines bin, sondern auch Herr Andreas Schmidt eines ist; Ihr kennt ihn ja als als den gewandten Moderator beim Wettbewerb und wisst: Er ist Rundfunkjournalist beim NDR in Kiel. Ja: und meine liebe Frau ist zu meiner Freude ebenfalls mit dabei.

Warum habe ich „meine Insel“ gesagt? Nun, dort bin ich geboren, das ist schon lange her, als die Tragödie des letzten Weltkriegbeginns noch in einer zweijährigen Zukunft lag. Und aufgewachsen bin ich auch auf meiner Insel. Von ihr, nicht von mir will ich im Folgenden erzählen; aber dies sei doch gesagt: Ich spreche und veröffentliche Texte in plattdeutscher Sprache, nicht nur in plattdeutsch, aber auch in dieser Sprache. Vor allem haben es mir die niederdeutschen Hörspiele angetan, doch ein paar Theatertexte und auch die Erzählliteratur bleiben von meiner diesbezüglichen Aktivität nicht verschont – warum auch immer.


Im Übrigen: Die Zeit verändert uns Menschen und die Nordsee verändert Sylt. Sylt wird schmaler, und Häuser, die in meiner Jugendzeit schon an der Abbruchkante standen, sind heute so gut wie vergessen. Das Foto zeigt das längst vergessene „Hotel zum Kronprinzen“ im Gebiet von Wenningstedt. Dahinter ein abgestürzter Wehrmachtsbunker aus der Nazi-Zeit.
 
 
 
 
 
 
 
 
 


 
 
 
Wollt Ihr wissen, warum Sylt etwas besonderes ist, zumindest zu sein scheint, weil wir uns heute ausgerechnet auf dieses Eiland begeben wollen und nicht auf irgendeine andere der zahlreichen schönen nordfriesischen Inseln vor unserer schleswig-holsteinischen Küste? Also, etwas besonderes sind alle diese Inseln auch. Nordstrand, Pellworm und die Halligen – das alles sind Marscheninseln bestimmter Art; Föhr, Amrum und Sylt sind insulare Eigengebiete, wenngleich sich Amrum und Sylt landschaftlich eher ähnlich sehen. Das Erkennen der jeweiligen Eigennote steigt aber mit der Intensität des Beobachtens und des Wahrnehmens. Lage, Größe und Gestalt von Sylt lässt ihr ganz spezielles Eigenwesen klar werden als Folge erdgeschichtlicher, meerischer und klimatischer Verhältnisse.
Sylt setzt sich zusammen aus Marsch und Geest. Und schließlich ist ja Sylt als das nördlichste Gebiet ganz Deutschlands anzusehen; die Gemeinde List ist die nördlichste, dort gibt es auch die nördlichste Hafenbar, und Westerland ist Deutschlands nördlichste Stadt, oder besser: nördlichstes Städtchen, fehlen ihm doch gerade mal etwa tausend Köpfe, um an die erste fünfstellige Einwohnerzahl zu stoßen. Dennoch: Beim Dahinschlendern auf der Friedrichstraße als eine der beiden Fußgängerzonen glaubt man sich in eine große Stadt versetzt, wenn man sich im Menschengewühl Bahn brechen muss, vor allem in der Sommerzeit. Dann denke ich an jene Zeit, als ich in Eurem Alter war, als die ersten Sommergäste des Jahres mit Kind, Kegel und Dienstmädchen im Mai heranreisten und die letzten mit Dienstmädchen, Kegel und Kind im September wieder davonfuhren. Danach wurden die Schaufenster mit Brettern vernagelt, sofern sie sich in der Nähe des Strandes befanden; es nahten die ersten Herbsttürme; und was einem dann an der Friedrichstraße begegnen konnte, waren nicht selten von starken Böen getriebene Schaumfetzen als Folge der starken Brandungswellen, so dass man belustigt oder erschrocken zur Seite sprang.
Tief unter Sylt steht das Gebirge der Zechsteinzeit, es verbindet die Gebirgszüge Mitteldeutschlands und Skandinaviens. Die Zechsteinzeit fällt in das Perm als jüngste Altzeit der Erde. Das liegt schon eine lockere Vierteljahrmilliarde zurück, also 250 Millionen. Lasst Euch von den Fachausdrücken und den Millionen Jahren nicht verwirren. Ist es nicht interessant, zu erfahren, dass damals die Ur-Nordsee gebildet wurde? Es gab neun Veränderungen der Nordseebeckenmeere bis hin zum Miozän, also bis vor 6 Millionen Jahren – wir kommen, wie Ihr bemerkt, immer näher an unsere Millionengegenwart heran. Das Morsumer Kliff, wir werden es heute nachmittag besichtigen, gibt den ältesten Sylt-Aufschluss. Aus dem späterem Eozän – es handelt sich um 50 Millionen Jahre vor unserer Zeit – stammt der Bernstein, der auch heute noch zu finden ist. Sylt besteht also aus Marsch und aus Geest. Geest besteht aus eiszeitlichen Ablagerungen. Auf der höchsten Erhebung von Sylt, den die Gletscher geschaffen haben (28 Meter; die absolut höchste Erhebung ist die Uwe-Düne mit 52 Metern), steht der Kampener Leuchtturm, 30 Seemeilen weit mit der Lichtfolge Kurz-Lang-Kurz-Kurz (Morsebuchstabe L) auf das Meer hinausstrahlend und den Seeleuten zeigend, dass sie gegebenenfalls ihren Kurs ändern sollen, wollen sie nicht am Sylter Strand in den Brandungswogen zerschellen.
In einer nacheiszeitlichen Phase wurde die Verbindung der drei Sylter Geestteile durch Ablagerung von Marschland hergestellt. Aufbau und Entstehung der Insel sind an den Kliffen in Morsum, Braderup und Kampen zu erkennen (Ende des Tertiärs bis in das jüngste Diluvium, ein Zeitraum von zwei Millionen Jahren). Das Kliff in Morsum zeigt uns die ältesten Schichten Sylts (Bildung einer eiszeitlichen Umlagerung – als einziges Vorkommen Deutschlands – , bei der die Grenzschichten zwischen Tertiär und Diluvium zutagetreten). Es steht unter Naturschutz seit 1923. In dreifacher Schichtung lagerten ursprünglich schwarzer Glimmerton, brauner Limonitsandstein und weißer Kaolinsand übereinander. Diese horizontale Ablagerung ist durch Gletscherschub während der vorletzten Eiszeit infolge Quetschung so umgelegt worden, dass nun die drei Erdreiche nebeneinander liegen. Die Lagerichtung des Kaolinsandes weist auf einen Eisschub von Nordost nach Südwest. Das Profil ergibt eine Schrägschichtung nach verschiedenen Richtungen. Kaolinsand ist eine Ablagerung von Flußschotter eines weitverzweigten Stromsystems. Der Schotter wurde aus Mittelskandinavien zum Nordseebecken geführt.
Wenn wir heute unser Mittagsmahl – es wird ein sehr gutes sein – eingenommen haben, dann werden wir uns ganz in der Nähe dieses berühmten Morsum-Kliffs befinden. Wir werden es besuchen. Auf ihm liegt übrigens die einzige und gelb-, nicht rein weißsandige Düne der Sylter Osthalbinsel. Die meisten Menschen schärfen ihr Auge und erkennen, was sie da vor sich sehen: Einen Landbruch, dessen Kante und unsichtbare Tiefe ganz weit in die erdgeschichtliche Vergangenheit weist. Und so mancher, der sich sonst ziemlich bedeutend vorkommt, wurde schon vor diesem imponierenden Bild ein rechtes Stückchen kleiner, auch wenn sich bei ihm ein solcher Schrumpfungsprozess nur im Inneren abspielt. Im Miozän war Sylt Meeresgrund. Zur Zeit des Limonitsandsteines erfolgte eine Landhebung. Sylt wurde Verlandungs- und Brandungszone. Während der Ablagerung von Kaolinsand wurde es Land. Messungen an 7 Stellen (Rotes Kliff, Kiesgrube Braderup, bei Keitum usw.) ergaben 200 Schrägschichten, wodurch Entstehung und Aufbau der Insel eindrucksvoll deutlich werden. Viele Fossilienfunde runden dieses Bild ab. Schwere Sturmfluten legen durch Unterspülung des Roten-Kliff-Fußes, der von Westerland bis Kampen reicht, das ganze Profil frei, so dass sofort Kaolinsand wie mit dem Lineal gezogen über breite Strecken sichtbar wird. Zur Zeit des miozänischen Glimmertones wuchsen amerikanische Sumpfzypressen, Lorbeeren und Magnolien in unserem Lande, also auch auf Sylt. Braunkohleentstehung erfolgte später durch Überschwemmungen der Flussläufe und Vermoderung des Waldes. Nordsee und Mittelmeer waren direkt miteinander verbunden. Nach der Trennung war die Themse für lange Zeit ein Nebenfluss des Rheins.
Glimmerton ist eine Schlammbildung des Mittelmeeres. An tierischen Resten fand man auf Sylt außer Schnecken, Muscheln, Krebsen, Haifischgebissen und Walwirbeln auch den Backenzahn des noch dreizehigen Zebras Hipparion gracile als den nördlichsten Fund in Europa. Der Kaolinsand birgt versteinerte Schwämme und Korallen, lavendelblaue Hornsteine aus dem Silur sowie die Halbedelsteine Achat, Rauchquarz und Amethyst (sie befinden sich im Keitumer Heimatmuseum). Zum Ende der vorletzten Eiszeit vor etwa 180000 Jahren wurde die oberste Schicht der Sylter Inselkerne als Geschiebelehm angelagert mit Gestein wie Granit und Gneis aus Schweden, Rhombenporphyr aus Norwegen. Die höchste Erhebung des Roten Kliffs liegt vor Kampen bei 25 Metern. In der letzten Eiszeit vor etwa 18000 Jahren blieb Sylt eisfrei. Dann ergab sich die Nordseebildung im Altalluvium, etwa 55000 bis 4000 v. Chr. durch eine allgemeine Landsenkung (die Corbula- oder flandrische Transgression). Der südliche Nordseeteil, vorher Land, wurde Meer bis zu 40 Metern Tiefe. Am Ende dieser Periode erreichte die Nordsee den Dithmarscher Geestrand, die Heverinsel und den Kern von Sylt. Später, in der jüngeren Steinzeit etwa 3500 bis 1800 v. Chr. drang die See bis Nordfriesland vor und bildete das Wattenmeer. Sobald wir mit unserem Bus in Niebüll auf den Autozug verladen sind, Klanxbüll hinter uns liegt und der Zug mit uns den Außendeich erklommen hat, wird sich das weite Wattenmeer vor uns auftun – gefüllt bei Hoch-, geleert bei Niedrigwasser, ganz im Gegensatz zur offenen Nordsee westlich von Sylt, die sich stets gut gefüllt und fast immer sehr bewegt zeigt. Der Hindenburgdamm, erbaut von 1923 bis 1927, durchschneidet das Wattenmeer und gehört heute der Bundesbahn. Diese bringt uns mitsamt dem Bus, reichlich dafür entlohnt, nach Westerland hinüber, ohne dass der Bussteuermann sich dabei anzustrengen hätte. Die Angelegenheit ruckelt und schaukelt zwar ein bisschen, aber es ist gut, eine Schienenverbindung, wenn auch eine teure, aber keine Autostraße auf dem Damm in Richtung Sylt zu haben. Die Straßen der Insel, eben keine mehrspurigen Rennstrecken, sind strapaziert genug und die Menschen auf den Bürgersteigen infolgedessen auch – und auch durch die nicht selten aggressiv herannahenden und nahe an einem vorbeisausenden Radfahrer.
Es sei denn, die Touristen wüssten wie ich (viele, aber gottlob nicht allzu viele wissen es), wo man auf Sylt immer noch einsam sein kann. Gott sei Dank wissen viele es nicht. Um zu wissen, wo sich die zahlreichen schönen Stellen dieses Eilands verstecken, muss man doch schon ein Eingeborener sein, ein mit der Insel Verwachsener, ein hier Großgewordener wie ich: Ein Sylter „Nordseeinselkind“ eben. Wer will, der möge zum Schluss dieses Tages mein Büchlein Nordseeinselkind – erste Gedichte aus meinen jüngeren Lebensjahren – als ein kleines Geschenk von mir an sich nehmen. Heute schreibe ich anders als damals, mit ein bisschen Glück entwickelt man sich ja ständig...


Natürliche Badefreude, das sieht man dieser jungen Dame an. Welche Freuden gibt es noch. Es ist gut und tut der Insel wohl, dass viele Touristen während ihres Sommerurlaubes nichts anderes im Kopf haben als abends sich in den Kneipen zu amüsieren und tagsüber sich faul am Strande zu rekeln. Bleibt doch den ebenfalls vielen Inselliebhabern auf diese Weise so manche schöne und schützenswerte Inselgegend nur wenig berührt und uns allen noch lange erhalten. In der See sommertags zu schwimmen, sich in die Wellen werfen, ob bei Wassertemperatur 18 Grad oder 22 (was durchaus vorkommen kann) – das schenkt einem, man kann es so sagen: die pure Lebensfreude.