Aus dem Privat-ArchivKritik-Diskussion mit Dieter Jorschik (rechts) an einem Theatertext. – Irmgard Harder wollte probieren, ob ihr nicht doch das Schreiben dramatischer Texte gefallen könnte, wozu sie bisher keine Neigung verspürte. Aber auch, weil sie ein starkes Interesse zeigte an meiner Einführung zum Textverfassen am PC, holte ich sie in Kiel ab und wir fuhren nach Verden an der Aller. Hier, im „Verdener Hof“, hatten etliche Teilnehmer des Verdener Arbeitskreises niederdeutscher Theaterautoren, dessen Gründungsmitglied ich war, ihr technisches Equipment bereits aufgebaut, und so ging es los mit der Einübung am Starwriter-Progamm, das damals schon recht gut zum Erstellen strukturierter Dialog- und Regieanweisungstexte geeignet war. Einen Bühnen- oder Hörspieltext schreiben lag Irmgard nicht, dabei blieb es, aber sich für ihre Radio- und Büchergeschichten, die sie seit dreißig Jahren verfasste, von nun an einen PC zuzulegen, das stand an diesem Wochenende fest. So kamen sie und ich auf der Rückfahrt überein, dass ich ihr einen Schneider-PC mit sagenhafter 20 Mbyte-Festplatte besorgte, dazu Maus, Tastatur und Drucker, und alles nach Kiel-Wellsee schaffte, dazu eine Einweisung gab, die bei weitem nicht ausreichte, weder ihr noch ihrem Mann Paul Selk erste Ahnungen vom Umgang mit digitalen Vorteilen zu vermitteln. So fuhr ich an vielen Wochenenden von der West- an die Ostküste unseres schönen Landes und das mit Erfolg, denn Irmgards (damals 64) schreibende Fortschrittskurve wuchs exponentiell an, während jene ihres Mannes (damals 83) zugunsten seines mechanischen Schreibgeräts schon gleich auf Null zurückgesprungen war. Diese Begegnungen und die bereits gewesenen wie vor allem die noch folgenden führten zu einer freundschaftlichen Nähe zwischen uns beiden Ehepaaren, und nach dem Tod ihres Mannes noch viele weitere Jahre mit der gebildeten, vielfach interessierten, weit durch Buch, Rundfunk und Lesung bekannten und geschätzten Irmgard Selk-Harder.

 

Aus dem Privat-ArchivPrivate PC-Unterrichtung bei Paul Selk und Irmgard Selk-Harder in Kiel-Wellsee – Irmgards erster PC, ihr Heini.
Irmgard war nach Wenningstedt in unser kleines Feriendomizil, Mittelweg 15a, eingeladen, vier Tage, drei Nächte, Sommer 1998. Als unser lieber Gast widmeten wir uns ihr selbstverständlich intensiv, die Gemeinsamkeit war mit geistreichen, aber nicht nur geistreichen Gesprächen belebt und sie nahm sehr gerne teil an den morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Essen und unserem ganztägigen Zusammensein. So erfuhren wir von ihrem Aufwachsen auf St. Pauli, ihrem Abitur und der Ausbildung zur Schauspielerin, von ihrer ersten Ehe, vom Sohn, der sich später das Leben nahm, von ihrer langjährigen Ehegemeinschaft mit dem Lehrer und Volkskundler Paul Selk, von ihrem Einstieg beim NDR in Hamburg, Flensburg und Kiel, wo sie ab 1954 bis zu ihrer Pensionierung die Niederdeutsche, später Heimat-Redaktion leitete, die der unvergessene Ernst Christ (1954-2016) neben weiteren Aufgaben übernahm. Zur NDR-Sendung Hör mal'n beten to ab 1956 gehörte Irmgard als Autorin und Sprecherin von Anfang an. Nun stand sie bei uns vor ihrem 76sten Geburtstag und machte sich mit mir auf, bei schönstem Sonnenschein die Sylter Südspitze – Hörnum Odde – im weichen Strandsand zu umwandern. Der von Jahr zu Jahr durch heftige Sturmfluten unaufhaltsam weiter zunehmende Dünenlandschaftsverlust zeigte sich zwar deutlich, aber es brauchte doch noch eine ganze Umrundungsstunde und der Gang durch den Sand zehrte bald sehr an Irmgards körperlicher Kraft. Die letzte Halbmeile forderte dreimal eine Pause, den letzten Aufstieg zum Strandrestaurant ermöglichte meine Handreichung, durch welche Irmgard sich unter fröhlichem Lachen hinter mir her und kontinuierlich aufwärts gezogen fühlte. Endlich waren wir „oben“, ruhten auf einer Bank und genossen dreierlei: Den Blick hinüber nach Föhr, den Blick hinüber nach Amrum und den Blick zu jenen unwissenden Umrundern, die alle Strapazen noch ahnungslos vor sich hatten.

Aus dem Privat-ArchivIrmgard mit Andy Anderson am 25. September 2009 im Fährhaus Lexfähre. Rechts Paul Selk (1903-1996) in Koldenbüttel.
Die Wohnung an der Buschkoppel in Kiel-Wellsee setzte sich aus zwei gegenüberliegenden Einzelwohnungen zusammen, deren eine, die zum Verkauf stand, von Paul Selk und seiner Frau Irmgard erworben wurde. So existierte nun ein ellenlanger Flur, dem sich heimelig ausgestattete Räume anschlossen, dabei Paul Selks reichhaltig mit Literatur und Schriften aller Art bestückte Bibliothek, Schubläden, in denen ungezähltes Notizmaterial aus seiner volkskundlichen Lebensarbeit lagerte, und Irmgards Arbeitszimmer gegenüber dem am anderen Flurende befindlichen Wohn- und Esszimmer. Wohl täglich wurde hier schöpferische Geistesarbeit geleistet, wenn nur irgend möglich, und jeden Besucher, dem dieses Heiligtum zu besichtigen gestattet war wie mir, besonders an den Wochenenden des „PC-Unterrichts“ – jeden also beeindruckte die geordnete Unordnung, in deren vom Boden bis zu den höchsten Regalen befindliche Reihen- und Stapelkomplexitiät nur Irmgard Harder sich zielsicher auskannte. Das und viele weite Darüberhinaus-Interessen waren ihr allemal wichtiger und lieber als Nurhausfrau zu sein. Hausfrau sein lag ihr nicht. Was nicht bedeutet, dass sie nicht in der Lage war, einem Gast ein zwar relativ einfaches, doch stets schmackhaftes Mittag- oder Abendessen vorzusetzen. Ehemann Paul half freundlich beim Heran- und Wiederzurücktragen der Schüssel, Teller, Tassen und des Bestecks, und er sorgte auch für Kaffee und Keksgebäck und brachte es in Irmgards Dichterstube. Worunter er litt, war, dass seine in etlichen Buchwerken festgehaltene volkskundlerische Lebensarbeit so gut wie gar nicht aus akademisch-fachkundiger Seite offiziell gewürdigt wurde. Neben seinen langen Volksschullehrerjahren eignete er sich ohne jedes Hochschulstudium durch autodidaktische Studien und eigene Feldforschung seine große Kenntnis der Volksüberlieferungen an. Er hatte die Präparande in Kappeln zur Vorbereitung auf das Lehrerseminar in Segeberg besucht, war dann viele Jahre Lehrer an Schulen in Angeln.

Obwohl ein Schmerz im ersten/zweiten Halswirbel sich verstärkt hatte, überwand sich Irmgard, ihre vor kurzem erst ausgesprochene Einladung meiner Frau und mir gegenüber nicht abzusagen. Sie lud uns in ein Restaurant an der Kieler Förde ein, war, wie man sie kannte, aufgeschlossen und an vielen Themen, wie sonst auch, interessiert. Schon bald erfolgte eine schwierwiegende ärztliche Operation. Während lange anhaltenden Nachsorgemaßnahmen auf der Intensivstation in Bad Segeberg besuchten wir sie zweimal. Erst spät fand sie zu ihrer Persönlichkeit zurück. Sie war erblindet. An ihrem 90sten Geburtstag war bei ihr eine Reihe nahestehender Freunde und Freundinnen während der Rehabilitation an der Schlei erschienen. Dr. Willy Diercks und Ernst Christ lasen ihr zahlreiche Glückwunschschreiben vor, die sie, wohlgekleidet in ihrem Rollstuhl sitzend, sehr erfreuten. Sie genoss auch eine Gesichtspflege durch meine Frau, deren Kunst als Kosmetikerin ihr wohlbekannt war. Ein Foto, wonach sie fragte, konnte mangels fehlender Kamera nicht aufgenommen werden. Es wäre das letze Zeugnis gewesen, das die menschzugewandte Freundlichkeit ihrer klugen und angenehmen Persönlichkeit dargestellt hätte. Eine Woche später starb Irmgard Selk-Harder. – In nahezu unmittelbar zeitlicher Nähe verlor die niederdeutsche Kulturszene zwei weitere hervorragende Personen der Literatur, den Buchautor Professor Dr. Reimer Bull und den Theater-, Hörspiel- und Buchautor Konrad Hansen.

Zurück zum Plattdeutschen